Lehren und Lernen ist ein komplexes Wissens- und Praxisfeld, und die Komplexität wird nicht geringer, wenn wir den betreffenden Bereich untersuchen oder erforschen wollen. Gleichwohl tun wir es, trotz der Komplexität – weil wir das Lehren und Lernen von Kindern verstehen, (weiter)entwickeln und optimieren wollen. Aber wie können wir das, wenn das Feld nun mal so komplex ist? Und nach welcher Methode sollten wir vorgehen? Dieser Artikel beleuchtet sowohl den qualitativen als auch den quantitativen Bereich und die dazwischen liegende Grauzone.
Bei der Wahl einer Forschungsmethode steht man oft vor der Entscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Ansatz, was von vielen als Gegensatz angesehen wird. Bei der qualitativen Methode geht es im Großen und Ganzen um Interpretationen, Einstellungen und Meinungen, z. B. wenn man die Schüler einer Klasse bittet zu beschreiben, wie sie ein bestimmtes mathematisches Problem am liebsten lösen möchten. Quantitative Methoden hingegen führen oft zu einer Zahl, einem Wert, einer messbaren Einheit und einem Ergebnis, unter das man eine Doppelunterstreichung setzt, z. B. eine Aufzeichnung darüber, wie viele verschiedene Möglichkeiten die Schüler zur Lösung einer bestimmten Aufgabe genutzt haben und wie viele jeweils diese oder jene davon nutzten. Auf den ersten Blick scheinen qualitative und quantitative Methode hier Gegensätze zu sein, aber sind sie das auch? Und wenn ja, welche Methode ist dann die beste, wenn es ums Lehren und Lernen geht?
Es ist praktisch, eine messbare Einheit zu haben, mit der sich beispielsweise Vergleiche zwischen Schülern, Fächern, Schulen und Ländern leicht anstellen lassen, aber kann man ein komplexes Gebiet auf eine Zahl, eine messbare Einheit und ein Ergebnis mit Doppelunterstreichung reduzieren, ohne dabei einige qualitative Interpretationen vorzunehmen? Andererseits kann es sich lohnen, es zumindest zu versuchen, denn die Auseinandersetzung mit Interpretationen, Einstellungen und Meinungen in unzähligen Einzelfällen kann ziemlich zeitraubend sein. Jede Methode hat ihre Vor- und Nachteile, aber die Frage ist, ob die Wahl zwischen den beiden Methoden wirklich so entscheidend ist, wie behauptet?
Gibt es wirklich eine scharf gezogene Linie, eine Grenze zwischen den beiden Methoden, oder gibt es eine quasi im Schatten liegende Grauzone dazwischen?
Qualität im Unterricht
Mit anderen Worten: Wenn wir unser Lehren und das Lernen von Kindern (weiter)entwickeln und optimieren möchten, wollen wir die Qualität des Unterrichts sicherstellen und optimieren, aber was heißt das? Was ist mit „Qualität im Unterricht“ gemeint? Definieren ließe sie sich etwa durch
● das Erleben der Schüler, wie gut der Unterricht ist
● einen hohen Notendurchschnitt in der Klasse
● verallgemeinerte Merkmale, die auf der Forschung im Laufe der Zeit basieren
● die Ergebnisse der Schüler in verschiedenen Prüfungen
● die erworbenen Kompetenzen der Schüler
● die Eignung des Unterrichts, zum Bildungsprozess der Schüler beizutragen oder
● die Eignung des Unterrichts, die Schüler zu inspirieren, ihnen Lust am Lernen zu vermitteln und ihr Selbstvertrauen zu stärken
Eine Definition, was Qualität bedeutet, ist an sich schon schwierig genug, und wenn dann noch versucht werden soll, Qualität in der Bildung zu definieren, die ja eine komplexe Situation darstellt, an der Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen beteiligt sind, wird die Aufgabe nicht gerade einfacher. Und während wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir Qualität in der Bildung definieren, meldet sich schon das nächste Problem: Wie können wir die Qualität des Lehrens, des Unterrichts (über)prüfen? Können wir das überhaupt, oder sollten wir sie im Hinblick auf die Einstellungen zum Unterricht und die diesbezüglichen Interpretationen untersuchen? Und ist das überhaupt eine Entweder-oder-Frage?
Der Versuch einer Messung von Qualität im Unterricht
Das Vorhandensein von Wissenschaft in der Grauzone
Eine Methode, die derzeit beim Untersuchen von Unterrichtsqualität eingesetzt wird, ist das Instrument The Protocol for Language Arts Teaching Observations, abgekürzt PLATO. Das PLATO-Handbuch stützt sich auf die Forschungsergebnisse zu den Merkmalen eines qualitativ guten Unterrichts und enthält 12 Elemente, die anhand von 15-minütigen Unterrichtsabschnitten behandelt werden, wobei jedes Element eine Punktzahl von 1 bis 4 erhält. Zu diesen Elementen gehören beispielsweise das Element „Intellektuelle Herausforderung“, bei dem es darum geht, inwieweit der Unterricht bei den Schülern mathematisches Denken und nicht nur die Wiederholung von bereits erlerntem Wissen hervorruft, und das Element „Klassendiskurs“, bei dem es darum geht, inwieweit der Unterricht den Schülern die Möglichkeit gibt, im Unterricht zu sprechen und zu diskutieren. Das PLATO-Handbuch definiert die Qualität eines Unterrichtssegments nicht auf der Grundlage, dass es hinsichtlich aller Elemente eine hohe Punktzahl erlangt, sondern dient als Instrument zur Untersuchung und Messung der Merkmale und Eigenschaften, die als mit der Qualität des Unterrichts zusammenhängend angesehen werden. Mit Hilfe des PLATO-Handbuchs kann also gemessen werden, inwieweit den Schülern im Unterricht mathematisches Denken abverlangt wird, inwieweit ihnen Gelegenheit gegeben wird, im Unterricht zu sprechen, oder inwieweit sich der Unterricht auf bereits erworbenes Wissen der Schüler bezieht und darauf aufsetzt. Anders ausgedrückt: Das PLATO-Handbuch stellt Parameter für die Qualität des Unterrichts auf und ermöglicht es, diese zu messen. Aber ist es dem PLATO-Handbuch damit gelungen, jene Aspekte der Unterrichtsqualität zu quantifizieren, die auf den ersten Blick schwer zu quantifizieren, zu messen und mit einem doppelt unterstrichenen Ergebnis zu versehen sind?
Die Messung der Parameter des PLATO-Handbuchs zur Unterrichtsqualität erfolgt jeweils mit menschlichen Codierern, die sich einen 15-minütigen Unterrichtsabschnitt ansehen und dann aus dem Gedächtnis und anhand von Notizen 8-15 Minuten daran arbeiten, dem Unterrichtsabschnitt für jedes der 12 Elemente eine Punktzahl zu geben. Der Codierer ist hierfür entsprechend geschult, aber unabhängig davon, dass das PLATO-Handbuch einen Rahmen für die Ermittlung von Punktzahlen vorgibt, hängt jede Punktzahl gleichwohl davon ab, was der einzelne Codierer beobachtet hat und wie diese Beobachtungen von ihm oder ihr selbst interpretiert worden sind. Wir alle haben unsere eigene ‚Brille‘, durch die wir die Welt sehen, und trotz des Geschultseins des Codierers ist es nahezu unmöglich, diese Brille beiseite zu legen und die Unterrichtsabschnitte völlig objektiv zu betrachten. Daher wird bei der Verwendung des PLATO-Handbuchs jedes Unterrichtssegment auch von zwei Codierern gewertet, was jedoch keine absolut objektive Messung der Parameter der Unterrichtsqualität anhand des PLATO-Handbuchs gewährleistet.
Die Messung und Quantifizierung von Qualitätsaspekten im Unterricht mithilfe des PLATO-Handbuchs basiert somit auf qualitativen Interpretationen von Unterrichtsabschnitten. Die scharf gezogene Linie oder Grenze zwischen quantitativer und qualitativer Methode existiert in diesem Fall also nicht, und das PLATO-Handbuch befindet sich quasi in einer Grauzone zwischen beiden. Aber enthält diese Grauzone nur Elemente aus der Welt der Wissenschaft oder gibt es auch Elemente aus der Praxis?
Das Vorhandensein von Praxis in der Grauzone
Noten sind ein regelmäßiger Bestandteil der weitaus meisten Lehrpraktiken, indem sie zur Bewertung und Einordnung des durch die Schüler erlernten Wissens und der Fähigkeiten dienen. Man kann sie sogar als Versuch betrachten, die Qualität des Unterrichts zu messen, da eines der Ziele der Lehre ja in der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten auf einem bestimmten Gebiet an die Schüler/innen besteht. Es kann also argumentiert werden, dass Noten ein Mittel zur Messung und Quantifizierung der Unterrichtsqualität sind, aber worauf basieren die Noten eigentlich? Ganz gleich, ob Jahres- oder Prüfungsnoten, so werden sie durch eine Lehrkraft vergeben, die die Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler bewertet (hat). Die quantifizierte Note basiert somit auf der qualitativen Einschätzung der Lehrkraft, die – genau wie die Codierer, die nach dem PLATO-Handbuch vorgehen – die Welt durch die jeweils eigene Brille sieht.
Wenn wir noch einen Schritt weiter gehen, können wir darüber nachdenken, auf Basis von was die quantifizierte Zahl, die eine Note ja ist, überhaupt vergeben wird. Denn wie bewerten wir eigentlich Wissen und Fähigkeiten innerhalb eines Fachs? Die beiden folgenden Fragen befassen sich mit derselben mathematischen Rechnung, nämlich 3 mal 5, sind jedoch in der ersten Frage streng symbolisch und in der zweiten Frage in realitätsnaher Form verbal formuliert. Wenn der/die Schüler/in die folgenden Antworten auf die beiden Fragen gibt, wie beurteilen wir dann seine/ihre Kenntnisse und Fähigkeiten anhand dieser Antworten?
Frage: Was ist 3 ● 5?
Antwort: 3 ● 5 = 8 (Antwort falsch).
Frage: Anna, Peter und Simon haben jeweils 5 Äpfel. Wie viele Äpfel haben sie insgesamt?
Antwort: Anna, Peter und Simon haben zusammen 15 Äpfel (Antwort richtig).
In beiden Fällen soll der/die Schüler/in dieselbe mathematische Frage beantworten, nämlich 3 mal 5, aber die Rechenaufgabe ist unterschiedlich formuliert. Die Antwort auf die symbolische Frageformulierung ist falsch und die auf die realitätsbezogene Frageformulierung richtig. Nun kommt unser Problem: Welche Note sollen wir dem Wissen und den Fähigkeiten dieser Person geben – basierend auf den gegebenen Antworten? Messen wir den größeren Wert dem Umgang mit und dem Verständnis von mathematischen Symbolen bei, oder bedeutet der Umgang mit Mathematik in realistischer Form am meisten – oder werden sie gleich gewichtet? Dies führt uns zurück zu der Frage, welche Kenntnisse und Fähigkeiten eine Note eigentlich ausdrückt. Es ist schwierig, feste Rahmen dafür zu vorzugeben, worauf eine Note aufgrund von Kenntnissen und Fähigkeiten von Schülern jeweils zu beruhen hat, und auch hier wird die Einschätzung der Lehrkraft ausschlaggebend für die Benotung sein. Obwohl die Note des Schülers doppelt unterstrichen auf dem Abschlusszeugnis als ‚Maßeinheit‘ seiner/ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten und in mancherlei Hinsicht auch für die Qualität des erteilten Unterrichts steht, basiert diese quantifizierte Zahl somit auf unzähligen qualitativen Bewertungen und Einschätzungen. Die Noten liegen damit im grauen Grenzbereich zwischen der quantifizierten Zahl und den qualitativen Bewertungen.
Der graue Grenzbereich
Als Leser/in denken Sie nun vielleicht: Ja, wie denn dann — was tun? Was ist die optimale Lösung, wenn wir das Lehren und Lernen von Kindern verstehen, (weiter)entwickeln und optimieren wollen? Eine schwer zu beantwortende Frage. Und womöglich gibt es die optimale Lösung gar nicht?
Das Einzige, was sicher ist: Nichts ist schwarz oder weiß. Die Nuancen des grauen Grenzbereichs müssen ans Licht geholt werden, und das kann nur gelingen, wenn wir uns ihrer bewusst sind und bereit sind, über das Lehren und Lernen von Kindern zu diskutieren und zu reflektieren.
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