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Eine mathematische Frauengeschichte: Die Geschichte vergangener Mathematikerinnen

Was ist das Stereotyp des Mathematikers? Mann oder Frau? Ist es der Typ mit Karostrickhemd, Taschenrechner in der Brusttasche und Hosenträgern? Oder ist es der ‚Nerd‘, der sich im Keller seiner Mutter verschanzt hat? Man kann trefflich darüber streiten, ob Stereotypen immer wahr sind oder nur Mythen, die im Laufe der Zeit durch Normen entstanden sind? In einer Studie aus Claudia Henrions Buch ”Women in Mathematics: the addition of difference” (Frauen in der Mathematik: der Zusatz des Unterschieds) bringt die Autorin ihre Verwunderung über den Geschlechteraspekt in der Mathematik zum Ausdruck, sprich: ”Wo sind die Frauen in der Mathematik?” Wie Henrion betont, beruht diese Vorstellung auf der Annahme, dass Mathematik in der westlichen Welt ein von Männern dominiertes Fach sei (Kjeldsen, 2011; Johansen & Sørensen, 2014). Heißt das nun, dass es in der westlichen Welt keine bekannten Mathematikerinnen gibt? Oder Mathematikerinnen, die die Landschaft der Mathematik erforscht und/oder verbessert hätten? Dieser Artikel soll den Einfluss von Mathematikerinnen auf die Entwicklung der Mathematik in verschiedenen Zivilisationen, Gesellschaften und Kulturen aufzeigen. Wir werden uns mit zwei Mathematikerinnen, Hypatia von Alexandria und Sophia Kowalewskaja, beschäftigen, wobei ihre Geschichte und ihre Leistungen ein Teil der Erzählung sein werden.

Hypatia von Alexandria: Im Jahr 331 v. Chr. wurde die ägyptische Stadt Alexandria von Alexander dem Großen (356-323 v. Chr.) erbaut; nach seinem Tod wurde das Reich jedoch in drei kleinere Teile geteilt, wobei einer seiner drei Generäle, Ptolemäus I (367-283 v. Chr.), über den ägyptischen Teil herrschte. Der historische Einfluss der Stadt selbst wurde unter anderem als Symbol für den ”Ort des Wissens” gesehen, wo andere frühe Mathematiker wie Euklid von Alexandria (ca. 300 v. Chr.), Apollonius von Perga (262-190 v. Chr.) und Archimedes von Syrakus (287-212 v. Chr.) u. A. zur Entwicklung der Mathematik beitrugen. Diese historische Grundlage war auch die Blütezeit der vermutlich ersten Mathematikerin. In den Jahren 355/370 n. Chr. wurde Hypatia, Tochter des Theon von Alexandria, geboren. Als Hypatias Vater hatte Theon die Aufgabe, für ihre Erziehung und Bildung zu sorgen, und so verschrieb sie sich als junge Erwachsene in Athen der Mathematik, Philosophie und Astronomie.

Hypatia von Alexandria (ca. 355/370-415 n. Chr.) [public domain] aus Wikimedia Commons

Mit einem Vater, der Mathematiker und Rektor einer der größten Schulen für Mathematik in Alexandria war, begann Hypatia, Mathematik zu studieren. Die meisten ihrer Werke sind jedoch im Laufe der Zeit verschwunden, aber als gesichert gilt, dass Hypatia viele bekannte mathematische Werke kommentiert hat, wie den Kegelschnitt des Apollonius und die Arithmetik des Diophanten. Dies zeigt, dass Hypatia ein vielfältiges Verständnis von Geometrie und Arithmetik (was wir heute als Algebra kennen) hatte. Insbesondere ihre mathematischen Fähigkeiten sollten dem Hauptziel der Alexandriner zugutekommen: der Erforschung der Bewegung der Himmelskörper. Durch diese Arbeiten entwickelte sie einen neuen Ansatz zur Berechnung der Bewegung von Himmelskörpern, den sie in ihrem Werk Der astronomische Kanon (das allerdings im Laufe der Zeit verloren ging) erläutert. Damit gehörte sie zu den wenigen griechischen Mathematikern, die sich mit der Erforschung von Sternenmustern und Himmelsbildern beschäftigten. Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in Alexandria, wo sie bis zu ihrem tragischen Tod lehrte, studierte und astronomische, mathematische und philosophische Werke kommentierte. Obwohl Hypatia von Gesellschaft, Politikern, Historikern und anderen Gelehrten respektiert und geliebt wurde, war sie dennoch einem Zeitgeist ausgesetzt, in dem Frauen nicht den gleichen Status wie Männer hatten und in einer Zeit der Rebellion verletzlich waren. Aufgrund der vom alexandrinischen Bischof Kyrill angeführten christlichen Volksgruppen erging ein Befehl zur Hinrichtung der neuplatonischen Philosophen [1]. Aufgrund ihrer neuplatonischen Ansichten (die als ketzerisch galten) wurde Hypatia von der christlichen Bewegung hingerichtet. Es heißt, die christlichen Horden seien von Kyrill persönlich mit der Hinrichtung Hypatias im Jahr 415 v. Chr. beauftragt worden, dem Jahr, in dem auch alle Werke zerstört wurden. Hypatias Hinrichtung wurde zu einem Symbol für das Ende der griechischen Mathematiktradition, aber ihre Geschichte wird bis zum heutigen Tag weiterhin erzählt (Bernardi, 2016).

Sofja Kowalewskaja: Nach Hypatia muss man ganz bis ins 18. Jahrhundert vorrücken, um die nächsten Frauen kennenzulernen, etwa Maria Agnesi (1718-1799) oder Sofia Germain (1776-1831). Ich werde mich jedoch insbesondere einer Mathematikerin des 19. Jahrhunderts widmen, die u. A. einen großen Einfluss auf andere abstrakte Themen der Analyseentwicklung hatte. Sofja Kowalewskaja wurde am 15. Januar 1850 in Moskau, Russland, geboren, wo sie schon früh mit der mathematischen Analyse in Berührung kam. Die Wände ihres Zimmers waren voller Mitschriften aus Michail Ostrogradskis (1801-1861) Kalkulationsvorlesungen, und auf einem der Blätter fand sich auch sein berühmter ”Divergenzsatz”:

Auch andere Mathematiker wie George Green (1793-1841), George Stokes (1819-1903) und Bernhard Riemann (1826-1866) sollen dem Vernehmen nach an Kowalewskajas Wand gewesen sein. Ihr Vater, ein russischer Offizier, der sich auch für Mathematik interessierte, ermöglichte ihr einen gesonderten Mathematikunterricht durch einen Hauslehrer. Als sie älter wurde und immer noch Interesse an Mathematik hatte, wollte Kowalewskaja dieses Fach studieren. Dem im Weg stand jedoch das ‚geschlechtsspezifische‘ Problem, dass es in Russland (zu dieser Zeit) Frauen nicht erlaubt war, an Universitäten zu studieren, und ihre Eltern sie zudem nicht allein aus dem Haus gehen ließen. Die einzig mögliche Lösung war eine arrangierte ”Vernunftehe” [2] mit dem russischen Paläontologen Wladimir Onufrijewitsch Kowalewski (Linkhinweis): https://prabook.com/web/vladimir.kovalevsky/1774464). Durch ihre Heirat konnte Kowalewskaja die Universität Heidelberg und später die Berliner Universität besuchen, wo sie später Privatunterricht durch den berühmten Mathematiker Karl Weierstraß (1815-1897) erhielt.

Sofya Kovalevskaya (1850 – 1891 e.v.t.) [public domain] via Wikimedia Commons

Mit Weierstraß als Mentor und ihrer frühen Bekanntmachung der ‚Calculus‘-Rechnung anderer Mathematiker war das Thema ”Theorie der teilweisen Differentialgleichungen” zweifellos wie geschaffen für Kowalewskaja. Im Zuge ihrer Arbeiten mit partiellen Differentialgleichungen verallgemeinerte sie ein Ergebnis des französischen Mathematikers Augustin-Louis Cauchy (1789-1857), das später als ”Cauchy-Kowalewskaja-Satz” bekannt wurde. Dieser ist ziemlich hochentwickelt und in seiner Abstraktheit komplex zu erklären. Für ggf. interessierte Leser ist er hier nachlesbar:

https://encyclopediaofmath.org/wiki/Cauchy-Kovalevskaya_theorem

Nach der Veröffentlichung ihrer Abhandlung über partielle Differentialgleichungen erhält Kowalewskaja 1874 im Alter von 24 Jahren ihren Doktortitel in Mathematik. Danach kehrt sie nach Russland zurück und distanziert sich eine Zeitlang von der Mathematik. Zwischenzeitlich macht sie die Bekanntschaft des schwedischen Mathematikers Magnus Gustaf Mittag-Leffler (1846-1927). Ihre Begegnung mit ihm verändert Sofja Kowalewskajas Status in der mathematischen Welt. Nach der Geburt ihrer Tochter im Jahr 1878 und einem Schriftverkehr mit Weierstraß beschließt Kowalewskaja, die Mathematik wieder aufzunehmen. Mit etwas Unterstützung von Mittag-Leffler wird Kowalewskaja 1881 Mitglied der Russischen Mathematischen Gesellschaft und 1882 der Französischen Mathematischen Gesellschaft. Nach dem Tod ihres Mannes erhält sie die Möglichkeit, 1884 der Universität Stockholm beizutreten. Mit dieser Ernennung ist Kowalewskaja unter anderem die erste Frau der Neuzeit, die an eine Universität mit dem Fach Mathematik berufen wurde. Anschließend muss sie in ihrem Leben einige Herausforderungen als Frau bewältigen. Auf einer Rückreise von Deutschland und Frankreich erkrankt sie am dänischen Wetter und zieht sich eine Rippenfellentzündung zu. Kowalewskaja kehrt schließlich nach Stockholm zurück, wo sie am 10. Februar 1891 stirbt (Katz, 2014; Audin, 2011).

Hypatia von Alexandria und Sophia Kowalewskaja sind gute Beispiele dafür, dass Mathematik nicht nur eine Männerdomäne ist. Aufgrund der normativen Herausforderungen verschiedener historischer Gesellschaftsformen war es für Mathematikerinnen schwierig, zur Symbolik, Sprache und den Denkmustern der Mathematik beitragen, daran teilhaben und sie weitergeben zu können, da Frauen nicht die Möglichkeit hatten, sich gleichberechtigt mit Männern weiterzubilden. Hypatia von Alexandria und Sofja Kowalewskaja haben ihr Leben damit verbracht, gesellschaftliche Normen zu widerlegen und zu zeigen, dass auch Frauen mathematische Forschung betreiben können. Aber sie sind nicht die einzigen, die als Heldinnen der Mathematik gelten; andere Mathematikerinnen wie Emmy Noether (1882-1935), die durch den „Noether-Satz“ bekannt wurde (mehr über Noether unter diesem Link: https://www.matkult.eu/matonline/index.php/2019/kvinder-i-matematik-emmy-noether/) oder die dänische Thyra Eibe (1866-1955) mit ihrer eingedänischten Version der Euklidschen Elemente und die erste Mathematikerin Dänemarks (mehr zu ihr unter: https://www.kvinfo.dk/side/597/bio/636/origin/170/) lassen sich dieser Kategorie zuordnen. Obschon Frauen in den mathematischen Fakultäten immer noch eine kleinere Gruppe sind, gibt es heute mehr von ihnen als zur Zeit der Anfänge Thyra Eibes. Organisationen wie die European Women in Mathematics (EWM) haben sich zum Ziel gesetzt, Frauen teilhaben zu lassen, zu inspirieren und sie zu einer Laufbahn in der Mathematik zu motivieren. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Chancengleichheit für beide Geschlechter in der Welt der Mathematik zu gewährleisten (Kjeldsen, 2011). Hierzu mein Verweis auf folgenden Link:

https://www.agnesscott.edu/lriddle/women/chronol.htm, mit weiteren Informationen zu den Beiträgen von Mathematikerinnen zum Fach in der Vergangenheit wie auch in neuerer Zeit. Mit diesen Worten bleibt schlussendlich nur noch eine Frage: Was ist Ihrer Ansicht nach ein/e Mathematiker/in heutzutage?

Anmerkungen:

[1]: Der Neuplatonismus ist eine philosophische Strömung im Zeitraum 300-600 n. Chr. (als Spätantike bekannt), nach deren Verständnis die Erkenntnis der Wirklichkeit unerreichbar war (mehr dazu unter folgenden Links: https://denstoredanske.lex.dk/neoplatonisme und https://denstoredanske.lex.dk/nyplatonisme).

[2]: Der Begriff ”Vernunftehe” [im dän. Ausgangstext wörtl.: ”Ehe aus Bequemlichkeit” — Anm. d. Übers.] besagt, dass eine Eheschließung zwecks Erlangung wirtschaftlicher, politischer, sozialer und/oder kultureller Möglichkeiten/Vorteile erfolgt (ist), um in einer oder mehreren Gesellschaftsformen ‚besser zurechtzukommen‘ (ein wenig mehr dazu unter diesem Link: https://womanmaker.com/da/marriage-of-calculation-and-marriage-of-love-like-nai/).

Literatur:

  • Kjeldsen, T. H. (2011). Myter om matematikere: Hvorfor er der så få kvinder? In: Kjeldsen, T. H. (Red.), Hvad er matematik? (S. 189-195). Kopenhagen: Akademisk Forlag.
  • Johansen, M. W. & Sørensen, H. K. (2014). Køn og matematik. In: Johansen, M. W. & Sørensen, H. K. (Red.), Invitation til matematikkens videnskabsteori (S. 202-205). Frederiksberg: Samfundslitteratur forlag.
  • Bernardi, G. (2016). Chapter 4: Hypatia of Alexandria. In: The Unforgotten Sisters: Female Astronomers and Scientists before Caroline Herschel (S. 27-35). London: Springer.
  • Audin, M. (2011). Remembering Sofya Kovaleskaya. London: Springer.
  • Katz, Victor J. (2014). History of Mathematics: International edition (3. Ausg.). Harlow: Pearson education.

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